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In Europa wird spätestens seit der Ankündigung des European Green Deal bzw. des „Fit for 55“-Pakets das Thema Nachhaltigkeit und Umweltschutz auch im Kartellrecht ergebnisoffen diskutiert. Deutschland ist hier keine Ausnahme. Das Bundeskartellamt („BKartA“) hat kürzlich zwei Nachhaltigkeitsinitiativen geprüft und diese im Wesentlichen unbeanstandet gelassen. Welche Lehren sich aus den hierzu veröffentlichten Informationen ziehen lassen und wie das Vorgehen der Bonner Behörde im Gesamtkontext einzuordnen ist – damit befasst sich dieser Beitrag.
Nachhaltigkeitsinitiativen, die marktbreit umgesetzt werden sollen, erfordern häufig die Verhaltensabstimmung an sich konkurrierender Unternehmen. Häufig umfasst die Kooperation aber (auch) den Austausch zu wettbewerbsrelevanten Aspekten wie z.B. Preise und Geschäftskonditionen. Werden solche Initiativen damit zwangsläufig zum Fall für das BKartA? Auf dem Bonner Prüfstein stand nun zweierlei: Zum einen eine Initiative des deutschen Lebensmitteleinzelhandels („LEH“) und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit („GIZ“) zu existenzsichernden Löhnen im Bananensektor, zum anderen die Pläne zur Erweiterung der Initiative Tierwohl auf die Rindermast. Im Ergebnis hat das BKartA zu keiner der beiden Initiativen Bedenken.
Die Initiative des LEH und der GIZ betrifft eine freiwillige Selbstverpflichtung des LEH zu gemeinsamen Standards für Löhne im Bananensektor. Ziel ist die Förderung existenzsichernder Löhne (sog. „Living Wages)“; Hintergrund ist ein entsprechender Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung an die GIZ. Im Zentrum der Living Wages-Initiative stehen dabei die Eigenmarkenbananen des LEH, der für diese Erzeugnisse entlang der Lieferkette gemeinsame Standards und strategische Ziele auf freiwilliger Basis einrichten will, um existenzsichernde Löhne zu fördern. Die Pläne sind insoweit auch mit dem zum 1. Januar 2023 in Kraft tretenden Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) verknüpft, das Unternehmen besondere Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten auferlegt. Die teilnehmenden Unternehmen planen die gemeinsame Einführung „verantwortungsvoller Beschaffungspraktiken“, die Entwicklung von Prozessen zum Monitoring transparenter Löhne und als Teil dessen die schrittweise Erhöhung des Absatzvolumens von Bananen, die nach Living Wages-Kriterien produziert und eingekauft werden.
Während es sich bei der Living Wages-Initiative um ein Novum handelt, ist das BKartA mit der Initiative Tierwohl seit 2014 befasst. Es handelt sich um ein Branchenbündnis aus Landwirtschaft, Fleischwirtschaft und LEH. Die Initiative möchte Tierhalter für die Verbesserung der Haltungsbedingungen (z.B. mehr Platz für die Tiere in den Ställen) honorieren. Finanziert wird die Initiative hauptsächlich von den vier größten LEH-Unternehmen in Deutschland. Kernelement der Initiative ist die Zahlung eines einheitlichen Aufschlags an die teilnehmenden Tierhalter (das sogenannte „Tierwohlentgelt“) über die teilnehmenden Schlachtbetriebe. Bei Schweinefleisch beträgt dieser Aufschlag derzeit 5,28 Euro pro Mastschwein und bei Geflügel je nach Art des Geflügels zwischen 2,75 bis 4 Cent je Kilogramm. Dieses Modell soll nun ab diesem Jahr auch im Bereich der Rindermast eingeführt werden.
Soweit sich das BKartA bislang mit Nachhaltigkeitsinitiativen befasst hat, stand für die Behörde regelmäßig „im Mittelpunkt, ob die Verhältnismäßigkeit etwaiger Wettbewerbsbeschränkungen gewahrt bleibt und die Auswahlmöglichkeiten des Verbrauchers nicht eingeschränkt werden bzw. er transparent informiert wird“ (Bundeskartellamt, Tätigkeitsbericht 2019/2020, S. 13). Nach eigener Aussage achtete das Amt dabei u. a. auf die folgenden Faktoren (Bundeskartellamt, Tätigkeitsbericht 2020/2021, S. 46):
Zwar hat das BKartA zu den nun geprüften Kooperationen eine eigene Pressemitteilung veröffentlicht. Die darin enthaltenen Ausführungen zur rechtlichen Bewertung sind allerdings recht spärlich.
Das BKartA sieht sich im hier betroffenen Schnittfeld also als eine Art Coach, der nicht bremsen, sondern konstruktiv mitgestalten will – und dessen Tür stets offen ist. Diese Policy des BKartA ist uneingeschränkt zu begrüßen.
Auffällig ist allerdings , dass das BKartA keinerlei hierüber hinausgehende Ambitionen zu verfolgen scheint. Umfassendere, abstrahierende Leitlinien zum Thema „grünes Kartellrecht“ – wie sie z.B. die niederländische Kartellbehörde veröffentlicht hat oder die Europäische Kommission sie in den Blick zu nehmen scheint – sind weiterhin nicht in Sicht. Vielmehr bleibt das BKartA seiner bisherigen Linie treu: Es setzt auch weiterhin auf einzelfallbezogene „Beratung“ und die Ausübung seines Aufgreifermessens, sodass „wenn ein bestimmter Rahmen nicht überschritten wird“ kein (Ordnungswidrigkeiten-)Verfahren eingeleitet bzw. ein Verfahren eingestellt wird (Bundeskartellamt, Tätigkeitsbericht 2019/2020, S. 13).
Es bleibt somit den Unternehmen überlassen, aus der Praxis des BKartA verallgemeinerungsfähige Aussagen zu destillieren. Dies aber ist schon deshalb schwierig, weil die Behörde für die bislang wohl sieben ihr vorgestellten Nachhaltigkeitskooperationen für nicht einmal die Hälfte der Vorhaben – dies betrifft die beiden hier erörterten sowie die Fairtrade-Initiative zum Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen – überhaupt nähere Sachverhaltsinformationen und Bewertungsüberlegungen veröffentlicht hat. Was dagegen die Prüfung (1) des Bündnisses für nachhaltige Textilien („Grüner Knopf“), (2) die Initiative des Handels zur Verringerung des Verbrauchs von Kunststofftragetaschen, (3) die Getränkehersteller-Initiative zur Vermeidung von Werbung für Alkopops und zuckerhaltige Getränke an Schulen sowie (4) die Initiative zur Reduzierung von Fett, Zucker und Salz in Fertigprodukten und Getränken anbelangt, liegen praktisch keinerlei Informationen vor.
Immerhin: Zeigte sich das BKartA lange Zeit eher zurückhaltend im Hinblick auf die Berücksichtigung von Gemeinwohlzielen im Rahmen der Kartellrechtsanwendung, sind die Töne aus Bonn nun differenzierter. Zwar sieht man noch immer primär den Gesetzgeber in der Pflicht zu definieren, in welchem Maß wettbewerbliche Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Marktteilnehmer zugunsten kollektiver Vorgaben für die Gesamtwirtschaft verdrängt werden sollen. Es wird aber anerkannt, dass insbesondere die Bekämpfung des Klimawandels ein Generationenprojekt („Singularität“) ist und auch andere Gemeinwohlinteressen eine kartellrechtlich relevante Rolle spielen können. Auch sieht das BKartA, dass nachhaltig hergestellte Produkte für Verbraucher:innen und damit auch für die Unternehmen und die Politik immer wichtiger werden (Bundeskartellamt, Tätigkeitsbericht 2020/2021, S. 46).
Es wird deshalb allseits erwartet, dass die Zahl von Fällen, in denen Wettbewerber derartige Ziele im Kooperationswege durchzusetzen versuchen, weltweit steigen werden. Deutschland dürfte hiervon besonders stark betroffen sein. Mit stark CO2-emittierenden Branchen und einem regierungsseitig formulierten Anspruch auf eine globale Vorreiterrolle bei der Verstromung von Wasserstoff ist das Land Schauplatz fundamentaler Koordinatenverschiebungen, die Wettbewerberkooperationen unumgänglich machen werden. Das BKartA ist sich dessen wohl bewusst, hat doch Präsident Mundt bereits öffentlich verlautbart: „die dicken Bretter kommen wahrscheinlich noch“.
Gerade mit einem solchen Arbeitspensum vor der Brust erschiene die Formulierung möglichst klarer Leitlinien aber besonders wünschenswert, um allen Beteiligten ein Orientierungsraster zu geben, bestimmte Themen von vornherein der Notwendigkeit vertiefter Diskussion zu entziehen und dadurch effizienter an das gewünschte Ziel zu gelangen: einem möglichst zeitnahen Ausgleich des Interesses an Wettbewerbsschutz einerseits und des Interesses an nachhaltigem, klimafreundlichen und ressourcenschonendem Wirtschaften andererseits.
Das gilt insbesondere für den offensichtlichen (und nicht eben fernliegenden) Schmerzpunkt, dass Nachhaltigkeitskooperationen trotz hehrer Ziele eine nicht „wegzudiskutierende“ Wettbewerbsbeschränkung mit sich bringen. Konnte in den nun entschiedenen Fällen – insbesondere hinsichtlich der Living Wages-Initiative – anscheinend bereits das Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV bzw. § 1 GWB verneint werden, spitzt sich die Diskussion um „grünes Kartellrecht“ letztlich doch vor allem auf die Frage zu: Wie sollen die Behörden agieren, wenn eine Wettbewerbsbeschränkung zu bejahen ist und angesichts der Marktwirkungen auch eine auf bloße Opportunitätsaspekte gestützte Verfahrenseinstellung nicht ermessensfehlerfrei erschiene? In diesen Fällen müssen die Kartellbehörden zwangsläufig die Möglichkeit einer Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 GWB eruieren. Bereits vor gut einem Jahr wurde denn auch in einem vom BKartA veröffentlichten Hintergrundpapier auf die Schwierigkeiten einer Einzelfreistellung verwiesen: „Auf den Schutz abstrakter Gemeinwohlziele können sich die kooperierenden Unternehmen hierbei […] nicht berufen. Sie müssen stattdessen den Nachweis erbringen, dass die nachteilig betroffenen Verbraucher durch die Vereinbarung nicht schlechter gestellt werden. Dieser Nachweis und die damit verbundene Quantifizierung der Gemeinwohlziele sind mit einer Vielzahl praktischer und normativer Probleme verbunden“ (Hintergrundpapier zum Arbeitskreis Kartellrecht, 01.10.2020, „Offene Märkte und nachhaltiges Wirtschaften – Gemeinwohlziele als Herausforderung für die Kartellrechtspraxis“, S. 45). Für die Lösung dieser Probleme liefert die Bonner (Einzelfall-)Praxis – mangels bisheriger Entscheidungsrelevanz – leider nach wie vor keine Anhaltspunkte.
Es zeigt sich: Während sich das BKartA grundsätzlich für Nachhaltigkeitsinitiativen durch Wettbewerber offen zeigt, veröffentlicht es nach wie vor nur grobe Eckpunkte der kartellrechtlichen Bewertung. Es fehlt weiterhin an einem generellen Leitfaden, sodass Unternehmen mit den Unwägbarkeiten der einzelfallbezogenen und durch veröffentlichte Fallpraxis kaum unterfütterten Ermessensausübung des BKartA umgehen müssen. Der rechtssicheren Umsetzung von Nachhaltigkeitsinitiativen ist hiermit nicht gedient.
Es ist zwar begrüßenswert, dass das BKartA einen gestalterisch-beratenden Ansatz verfolgt und Unternehmen ermutigt, Kooperationen zum „grünen Kartellrecht“ proaktiv vorzustellen. Abseits genereller Leitlinien berührt diese Praxis aber nur die Spitze des Eisbergs und kann – nicht zuletzt aufgrund des Einzelfallcharakters der entschiedenen Fälle und der nur spärlichen veröffentlichten Informationen – die sachgerecht-effiziente Bearbeitung „grüner Fälle“ behindern oder von deren Implementierung sogar abschrecken. Nachhaltigkeitskooperationen sind weitgehend unkartiertes Gebiet, was schon für sich genommen geeignet ist, Unsicherheiten bei den Marktakteuren zu bewirken. Verstärkt wird dies hier noch durch den kartellrechtlichen Kontext – ist das Kartellrecht angesichts seiner umfassenden Sanktionsdrohungen doch nunmehr seit vielen Jahren als besonders sensibles Compliancethema und (finanzielle) Hochrisikozone im Bewusstsein der Unternehmen verankert. Und schließlich spielt ökonomisch betrachtet der First-Mover Disadvantage eine Rolle: Ein Unternehmen, das sich abseits einer (größeren) Gruppe von Konkurrenten im Sinne z.B. des Tierwohls positioniert und hierdurch eine höhere Kostenbelastung eingeht, erfährt einen unmittelbaren Wettbewerbsnachteil – der sich perpetuiert, wenn keine oder nur wenige andere Unternehmen hierbei „mitziehen“. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass selbst „nachhaltigkeitswillige“ Unternehmen davon absehen, sich um derartige Kooperationen zu bemühen, wenn sie zusätzlich zu diesen Unwägbarkeiten auf eine Kartellrechtspraxis treffen, die bereits relativ einfach gelagerte Fälle nur im Rahmen (langdauernder) Einzelverfahren aufgreift, deren Ausgang vorab kaum eingeschätzt werden kann. Abstrakt-generelle Leitlinien (wie sie z.B. für die Bußgeldberechnung oder für die Fusionskontrolle existieren) könnten hier Abhilfe schaffen.
Das BKartA ist hierfür nicht blind, hat es doch schon im Rahmen des o.g. Hintergrundpapiers die Frage aufgeworfen, „ob es an seiner bisherigen Praxis, außerwettbewerblichen Belangen primär im Rahmen des behördlichen Aufgreifermessens Rechnung zu tragen, festhalten soll“, da „die Debatte um Leitlinien zum Umgang mit Nachhaltigkeitsinitiativen nicht verstummen wird“ (siehe dazu auch unseren Beitrag hier). Derzeit scheint allerdings völlig offen, ob und wie sich das BKartA auf ein solches Unterfangen einlässt.
Einstweilen aber gilt (um ein naturnahes Bild zu bemühen): das BKartA betrachtet nicht den ganzen Baum, sondern jedes Blatt einzeln. Kooperationswillige Unternehmen haben daher nach jetzigem Stand auch im „grünen Bereich“ nur die binäre Wahl: Entweder auf eine „Selbstveranlagung“ zu setzen, sodass die Umsetzung einer Kooperation rein auf die (anwaltlich begleitete) eigene Rechtsbewertung gestützt wird. Oder aber nach einer entsprechenden Ersteinschätzung auch das BKartA einzubinden und der Behörde eine eigene Bewertung und ggf. Gestaltung des Vorhabens zu ermöglichen. Insoweit gilt es also nach wie vor, das Interesse an selbstständiger Gestaltung und rascher Umsetzung einer Kooperation gegen das Interesse an Rechtssicherheit für die Kooperation abzuwägen.
Verfasst von Christian Ritz, Elena Wiese und Florian von Schreitter