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Die Fusionskontrolle ist seit vielen Jahrzehnten eine tragende Säule des Kartellrechts in fast allen europäischen Rechtsordnungen. Auch in anderen Teilen der Welt ist sie fester Bestandteil des behördlichen Werkzeugkastens. Doch es tut sich etwas: Die traditionellerweise umsatzbasierten Anmeldeschwellen werden durch andere Aufgreifkriterien ergänzt, um eine erweiterte behördliche Zuständigkeit zu schaffen und damit den Anwendungsbereich der Fusionskontrolle zu vergrößern. Hintergrund ist eine weltweit wachsende Skepsis gegenüber M&A-basiertem Unternehmenswachstum. Das betrifft insbesondere Branchen, die aus Sicht von Behörden und Gesetzgebern besonders stark dadurch charakterisiert sind, dass größere Wettbewerber sich durch Zukäufe von jungen Unternehmen verstärken, die noch nicht genügend hohe Umsätze erzielen, um eine Anmeldepflicht auf Basis von Umsatzschwellen zu begründen.
Verschiedene Möglichkeiten sind denkbar, um eine solche Zuständigkeitsausweitung zu begründen. In diesem Beitrag gehen wir auf die sogenannten "Call-in"-Befugnisse ein, die aufgrund jüngster EuGH-Rechtsprechung gerade in Europa die Fantasien der Kartellwächter anregen und erhebliche Rechtsunsicherheit schaffen können. Wir beleuchten die Hintergründe, skizzieren die Rechtslage in einzelnen Staaten und zeigen auf, welche Folgen dieser Trend für M&A-Aktivitäten haben wird.
Die sogenannte "Call-in"-Befugnis gibt einer Kartellbehörde das Recht, auch Zusammenschlüsse unterhalb der Anmeldeschwellen an sich zu ziehen und die beteiligten Unternehmen zur Anmeldung zu zwingen. Eine Voraussetzung dafür ist in der Regel eine potenzielle wettbewerbliche Bedrohung des inländischen Marktes.
In Europa sind solche Interventionsmöglichkeiten seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshof („EuGH“) vom 3. September 2024 in Sachen Illumina/Grail (C-611/22 P und C-652/22 P) in ihrer Bedeutung stark gewachsen. Der EuGH stellte klar, dass die von der Europäischen Kommission („Kommission“) seit 2020 vertretene Auslegung des Artikel 22 FKVO rechtswidrig war. Die Norm regelt die Möglichkeit einer Verweisung von Zusammenschlüssen durch die Mitgliedstaaten an die Kommission. In einem damals überraschenden Schwenk war die Kommission dazu übergegangen, solche Verweisungsanträge auch dann anzunehmen, wenn nicht nur sie selbst – dann wäre der entsprechende Fall direkt zur Prüfung in Brüssel gelandet – sondern auch der verweisende Mitgliedstaat keine eigene Prüfzuständigkeit hat.
Dem schob der EuGH – wie an anderer Stelle bereits ausführlich berichtet – einen Riegel vor, so dass nun nur noch solche Fälle nach Artikel 22 FKVO an die Kommission verwiesen werden können, für die der verweisende Staat auch tatsächlich zuständig ist. Damit möglicherweise wettbewerblich kritische Zusammenschlüsse innerhalb der EU nicht völlig unter dem behördlichen Radar fliegen, muss also mindestens ein Mitgliedstaat eine eigene Prüfungskompetenz haben. Diese kann er dann entweder selbst nutzen oder aber zur Basis einer Verweisung nach Brüssel machen. Worauf genau diese Zuständigkeit rechtlich basiert, ist dem Grunde nach irrelevant. Margrethe Vestager, die scheidende Wettbewerbskommissarin der EU, richtete daher in einer ersten Reaktion unmittelbar nach dem Urteil den Scheinwerfer ganz besonders auf nationale „Call in“-Befugnisse:
„In the last few years, several Member States have introduced provisions allowing them to request the notification of transactions that do not meet national thresholds, in situations where they might have a significant competitive impact. The possibilities for referrals to the Commission under Article 22, in compliance with today's judgment, are thus already more extensive than they were at the time of the Illumina/GRAIL referral.”
Aus Sicht der Kommission ist es konsequent, diesen Weg weiterzuverfolgen. Denn hinter der vom EuGH gekippten Praxis stand der Wunsch, sogenannten "Killer Acquisitions" durch eine umfassende Fusionskontrolle vorzubeugen. Dieser seit Jahren durch die rechtspolitischen Debatten geisternde Kampfbegriff bezeichnet den Erwerb eines (kleinen) Unternehmens mit dem primären Ziel, dessen Wettbewerbspotenzial zu eliminieren, um den Erwerber vor (künftigem) Wettbewerbsdruck zu schützen. Dieses Problem wird schwerpunktmäßig in der Digitalwirtschaft sowie im Pharma- und Biotech-Bereich verortet.
Es dauerte dann auch nicht lange, bis Vestagers Worten auch Taten folgten. Am 31. Oktober 2024, nur wenige Wochen nach dem obigen Statement, meldete die Kommission, dass sie einen auf Artikel 22 FKVO gestützten Verweisungsantrag der italienischen Kartellbehörde angenommen habe. In der entsprechenden Pressemitteilung wurde explizit darauf verwiesen, dass die Italiener diesen Antrag erst gestellt hatten, nachdem Italien von der nationalen „Call in“-Befugnis Gebrauch gemacht hat und der Zusammenschluss somit in Italien anzumelden war.
Die italienische Regelung, die diesem Fall zugrundeliegt, ist dabei durchaus beispielhaft für die Tatbestandsmerkmale von „Call in“-Befugnissen. Im Kern hat sie zur Voraussetzung, dass der fragliche Zusammenschluss greifbare Risiken für den Wettbewerb in (mindestens) einem wesentlichen Teil des Staatsgebiets mit sich bringt.
Im Detail variieren die entsprechenden Befugnisse jedoch erheblich. Während Italien, Dänemark, Ungarn und Schweden die Anwendung ihrer Befugnis zum "Call-in" ergänzend von einem bestimmten (hinter den allgemeinen Schwellen zurückbleibenden) Mindestumsatz abhängig machen, stellen Lettland und Slowenien auf nationale Marktanteile ab. Auch innerhalb dieser beiden Kategorien ergänzender Tatbestandsmerkmale gibt es deutliche Abweichungen von Land zu Land. Während Italien beispielsweise (neben anderen Alternativen) einen gemeinsamen Inlandsumsatz der Zusammenschlussbeteiligten von mehr als 567 Mio. EUR voraussetzt, zieht Schweden die Schwelle hier bei umgerechnet knapp 87 Mio. EUR, Ungarn bei rund 12 Mio. EUR und Dänemark bereits bei knapp 7 Mio. EUR. Ähnliches gilt für marktanteilsbezogene Anknüpfungen der „Call in“-Befugnis: Während in Lettland bereits ein kumulierter Marktanteil von 40% genügt (gleichzeitig aber auch der Anfangsverdacht für eine Wettbewerbsbeeinträchtigung durch die Transaktion bestehen muss), verlangt Slowenien zwar einen gemeinsamen Marktanteil von 60%, stellt dafür aber keine weiteren Tatbestandsvoraussetzungen auf.
Irland verzichtet auf ergänzende Merkmale sogar völlig. Hier genügt, dass die Transaktion möglicherweise Auswirkungen auf den Inlandswettbewerb haben kann. Ein vergleichbar weiter Ermessensspielraum findet sich auch in Litauen, wo die „Call in“-Befugnis schon dann greift, wenn die Schaffung oder Stärkung einer beherrschenden Stellung oder einer erheblichen Einschränkung des Wettbewerbs auf einem relevanten Markt in Litauen droht. In eine ähnliche Richtung geht Zypern für Zusammenschlüsse von „großer Bedeutung“ (major importance), wobei diese Einordnung einen entsprechenden Erlass des Ministers für Energie, Handel und Industrie voraussetzt und die Kartellbehörde vor einer solchen Exekutiventscheidung nicht selbst tätig werden kann.
Groß ist schließlich auch die Spannbreite bei der Frage, ob derartige Eingriffsbefugnisse fristgebunden sind oder nicht. Während beispielsweise Schweden und Zypern keine zeitlichen Grenzen für die „Call in“-Befugnisse zu kennen scheinen, dürfen sie beispielsweise in Italien, Dänemark und Ungarn spätestens sechs Monate nach dem Transaktionsvollzug nicht mehr eingesetzt werden; in Litauen beträgt die Frist 12 Monate.
Befugnisse zum "Call-in" finden sich indes nicht nur in den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten der EU. So gibt es schwellenwertunabhängige Überprüfungsmöglichkeiten für die Wettbewerbshüter auch in EWR-Staaten wie Norwegen oder Island. Insgesamt stellen derlei Eingriffsmöglichkeiten zwar nicht die Regel dar. Allerdings existieren auch jenseits des EWR bereits rund 30 weitere Jurisdiktionen, die ihren Behörden ergänzende „Call in“-Befugnisse einräumen. Zählt man die oben erwähnten europäischen Jurisdiktionen hinzu, gibt es zurzeit also gut 40 „Call in“-Fusionskontrollregime – immerhin knapp ein Viertel der Jurisdiktionen, die überhaupt eine nationale Fusionskontrolle kennen.
Zudem finden sich auf dieser Liste mit China, Japan, Korea, Kanada, den USA und Mexiko sechs der zwanzig führenden Wirtschaftsnationen, einschließlich der Nummern 1 (USA) und 2 (China). Die Eingriffsvoraussetzungen knüpfen auch dort grundsätzlich an die schon geschilderten Parameter an. In Kanada dürfen Transaktionen beispielsweise immer dann überprüft werden, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass der Zusammenschluss zu einer erheblichen Verhinderung oder Verringerung des Wettbewerbs führen könnte. Soweit das Vorhaben nicht angemeldet war, hat die Behörde dafür sogar bis zu drei Jahre nach dem Closing Zeit. Vergleichbares gilt für Japan, Korea, Mexiko sowie die USA, deren Wettbewerbsbehörden auch solche Transaktionen einer Prüfung unterziehen können, die ein erhebliches Risiko wettbewerblicher Schäden zum Nachteil von Verbrauchern in lokalen oder regionalen Märkten darstellen können. In China sieht die nationale Gesetzgebung sogar keinerlei explizite Schranken für einen „Call in“ vor; der Behörde ist insoweit weites Ermessen für die Prüfung von Fusionen eingeräumt.
Es gibt also zwar keine Mehrheit nationaler Fusionskontrollregime mit „Call in“-Befugnissen. Allerdings ist ihr Anteil bereits heute erheblich – und tendenziell wachsend. Die italienische Kartellbehörde z.B. erhielt die entsprechende Befugnis erst im Sommer 2022, die irische im Jahr 2023. Und jedenfalls in Europa spricht vieles dafür, dass weitere Mitgliedstaaten auf diesen Trend aufspringen werden. Entsprechende Begehrlichkeiten sind im Nachgang zum Illumina-Urteil gewachsen, da viele Behörden (einschließlich der Kommission) eine Regelungslücke erkennen, wenn die Fusionskontrolle allein an quantitativen Aufgreifkriterien festhält und dadurch unter Umständen die Prüfung einer „Killer Acquisition“ unterbleibt; rechtspolitisch kann es hier also viel Rückenwind geben. Bekannt sind solche Bestrebungen bereits aus den Niederlanden, Finnland, Tschechien, Belgien und Griechenland. Auch die Kommission selbst könnte unter der neuen Wettbewerbskommissarin Teresa Ribera entsprechende Reformen angehen – immerhin ist die FKVO (einschließlich der Schwellenwerte) seit zwanzig Jahren unverändert.
Dafür spricht auch, dass die Kommission im Bereich von Artikel 22 FKVO weit umtriebiger war als es die Zahl der zuletzt tatsächlich verwiesenen Fälle nahelegen mag. Zwar kam es auf Basis der vom EuGH kassierten Normauslegung seit März 2021 nur zu drei Fusionskontrollanmeldungen in Brüssel. Kommissionsbeamte haben jedoch bestätigt, dass es im Hintergrund rund 100 (!) entsprechender Vorabprüfungen gab, wovon 19% ihren Schwerpunkt in digitalen Märkten und 45% in den Bereichen Pharma / Biotech hatten. Das zeigt nicht nur, wie genau die Kartellbehörden auch unterhalb der allgemeinen Anmeldeschwellen hinzusehen wünschten, sondern auch, dass sich dieser Wunsch mitnichten auf Software und Medikamente beschränkte.
Damit zeichnet sich ein aus Unternehmenssicht schlechter Trend ab. Jedenfalls dann, wenn keine Lösung auf Brüsseler Ebene gefunden wird, käme es zu einer kleinteiligen, dezentralen Praxis, die von der Parallelität verschiedener nationaler Fusionskontrollregeln geprägt wäre. Das ist umso misslicher, als diese Regeln in ihren Voraussetzungen zwar stets ähnlich, aber eben nie identisch sind. Das gilt für die tatbestandlichen Voraussetzungen eines „Call in“, wie auch für die Fristenregelungen, innerhalb derer er möglich ist.
Konkret mit Blick auf die von Kommissarin Vestager angesprochene Lösung, „Call in“-Befugnisse zur Basis von künftigen Artikel 22-Verweisungen zu machen, ergeben sich zudem ganz spezifische Folgeprobleme:
„Call in“-Befugnisse in der Fusionskontrolle sind zwar nicht die Regel, aber weltweit verbreitet und alles andere als ein Nischenphänomen. In der EU zeichnet sich zudem ein klarer Trend hin zu ihrem weiteren Ausbau und ihrer stärkeren Nutzung ab.
Das ist bedauerlich. Trotz der Illumina-Entscheidung des EuGH, die eigentlich für ein Mehr an Rechtssicherheit in diesem Bereich sorgen sollte, wird die Fusionskontrolle nun abermals komplexer und unsicherer. Anders gewendet: Der EuGH hat ein großes Problem gelöst, damit aber Folgeprobleme aufs Tapet gebracht. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Probleme auf Initiative der neuen Kommission einer Lösung auf EU-Ebene zugeführt und die Fusionskontrollvorschriften angepasst werden – möglicherweise auch in Gestalt einer „Call in“-Befugnis zugunsten der Kommission, die im Fall ihrer Ausübung konkurrierende nationale Prüfbefugnisse verdrängt. Dabei aber dürfte es sich allenfalls um eine mittel- bis langfristige Lösung handeln. Insbesondere eine umfassendere (Gesamt-)Reform der FKVO wäre ein auch politischer Kraftakt, für den Mehrheiten zu sammeln und Kompromisse einzugehen wären.
Kurzfristig müssen sich Unternehmen daher insbesondere in Europa dem Flickenteppich verschiedener Fusionskontrollregime einschließlich der jeweiligen „Call in“-Befugnisse stellen. Die hierbei entstehenden Unsicherheiten, insbesondere angesichts verschiedener Fristenregime, sind bei der Transaktionsplanung und -dokumentation risikoorientiert zu berücksichtigen. Entsprechend müssen sie nicht nur in der Planung berücksichtig werden, sondern auch in den Deal-Dokumenten. Auch gilt es, ein waches Auge auf die weiteren rechtspolitischen Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedstaaten zu haben und sich zudem auf die Möglichkeit weiterer auf „Call in“-Befugnisse gestützter Fallverweisungen nach Brüssel einzustellen. Dass dieses Vorgehen neue rechtliche Bedenken aufwirft, scheint – wie das aktuelle Beispiel Italiens zeigt – die Behörden einstweilen nicht anzufechten. Im Zweifel wird es hier daher erneut am EuGH sein, Licht ins Dunkel zu bringen.
Verfasst von Martin Sura, Elena Wiese, und Florian von Schreitter.