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Künftig gelten für die gesamte Lebensmittellieferkette neue „Fairness-Regeln“. Verspätete Zahlungen, kurzfristige Stornierungen und einseitige Vertragsänderungen durch einkaufende Händler („Käufer“) zulasten von im Vergleich umsatzschwächeren Lieferanten sind nun verboten.
Ab dem 1. November 2021 müssen in den EU-Mitgliedstaaten die zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/633 über unlautere Handelspraktiken in der Agrar- und Lebensmittelversorgungskette („UTP-Richtlinie“) getroffenen Maßnahmen angewendet werden. Auch wenn die Umsetzungsfrist schon am 1. Mai abgelaufen ist, ist die Umsetzung bislang nur in einigen wenigen EU-Mitgliedstaaten erfolgt. In Deutschland ist das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie seit dem 9. Juni 2021 in Kraft.
Deutschland hat bei der Umsetzung die Vorschriften im Vergleich zur UTP-Richtlinie nochmal verschärft. Für die Gestaltung internationaler Lieferketten kann dies von entscheidender Bedeutung sein, weil sich die Vertragspartner hier auf die deutschen Sonderregelungen einstellen müssen.
Ziel der Richtlinie ist die faire Behandlung von kleinen und mittelgroßen Lieferanten im Lebensmittelhandel, die gemessen am Jahresumsatz einer kleineren Größenkategorie als ihr Käufer angehören. Hierfür sieht die Richtlinie Verbote unfairer Handelspraktiken mit Mindeststandards für Verträge entlang der Lebensmittelversorgungskette vor. Auch Altverträge müssen innerhalb einer 12-monatigen Übergangsfrist nach Veröffentlichung der jeweiligen nationalen Umsetzungsgesetze angepasst werden.
Die Richtlinie schützt kleine und mittelgroße Lieferanten mit einem Jahresumsatz von höchstens 350 Millionen Euro, die gemessen am Jahresumsatz einer kleineren Größenkategorie als ihr Käufer angehören.
Hierbei sind verschiedene Umsatzwertepaare maßgeblich. Das kleinste Wertepaar umfasst Beziehungen zwischen Lieferanten mit einem Umsatz von höchstens 2 Millionen Euro und Käufern mit einem Umsatz von mehr als 2 Millionen Euro. Das höchste Wertepaar betrifft Beziehungen zwischen Lieferanten mit einem Umsatz von mehr als 150 Millionen bis höchstens 350 Millionen Euro und Käufern mit einem Umsatz von mehr als 350 Millionen Euro. Zudem muss mindestens eine der Parteien in der EU niedergelassen sein.
Der Jahresumsatz berechnet sich nach dem Anhang der sog. KMU-Definitionsempfehlung (Empfehlung 2003/361/EG), sodass ggf. auch die Umsätze von Partnerunternehmen und verbundenen Unternehmen zu berücksichtigen sind.
Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse umfassen dabei eine breite Palette von Produkten, darunter Agrar-Rohstoffe wie Gemüse und Obst ebenso wie Fisch und Fleisch und verarbeitete Lebensmittel, Tabak und Wein.
Die UTP-Richtlinie verbietet bestimmte Handelspraktiken der Käufer.
Die Richtlinie stellt hierzu sowohl eine Liste stets verbotener unlauterer Handelspraktiken („Schwarze Liste“) als auch eine weitere Liste mit Handelspraktiken, die nur noch erlaubt sind, wenn sie vorher klar und eindeutig zwischen den Vertragsparteien vereinbart wurden („Graue Liste“) auf.
Folgende Praktiken gelten stets als unlauter und unter allen Umständen verboten:
Folgende Praktiken sind verboten, wenn sie nicht zuvor klar und eindeutig in der Liefervereinbarung oder in einer späteren Vereinbarung zwischen dem Lieferanten und dem Käufer vereinbart wurden:
Die EU-Mitgliedstaaten müssen eine Durchsetzungsbehörde mit ausreichenden Befugnissen zur Untersuchung und Sanktionierung der verbotenen unlauteren Handelspraktiken benennen.
Lieferanten, die von verbotenen Handelspraktiken betroffen sind, können sich mit Beschwerden an diese Durchsetzungsbehörden wenden.
Die Durchsetzungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten leisten sich gegenseitig Amtshilfe bei Untersuchungen, die grenzüberschreitend sind.
In Deutschland ist die Umsetzung im Agrarmarktstrukturgesetz, das nun Agrarorganisationen-und-Lieferketten-Gesetz (AgrarOLkG) heißt, erfolgt.
Das Gesetz ist am 8. Juni 2021 im Bundesgesetzblatt verkündet worden und seit dem 9. Juni 2021 in Kraft.
Dabei sind die neuen UTP-Regeln im Vergleich zu den Vorgaben der Richtlinie noch deutlich verschärft worden.
Der deutsche Gesetzgeber geht über die UTP-Richtlinie hinaus, indem er folgende Praktiken von der Grauen Liste auf die Schwarze Liste setzt, sodass auch ihre Vereinbarung stets verboten wird:
Zudem wird der Anwendungsbereich der Vorschriften ausgedehnt: Zunächst befristet bis 1. Mai 2025 werden beim Verkauf von Milch-, Fleisch-, Obst-, Gemüse-, und Gartenbauprodukten Lieferanten mit einem Jahresumsatz im jeweiligen Verkaufssegment in Deutschland von bis zu 4 Milliarden Euro geschützt, wenn deren gesamter Jahresumsatz nicht mehr als 20 Prozent des gesamten Jahresumsatzes des Käufers beträgt. Wenn man bedenkt, dass die UTP-Richtlinie nur Lieferanten mit einem Jahresumsatz bis 350 Millionen Euro erfasst, stellt das eine erhebliche Ausweitung des Anwendungsbereichs dar.
Durchsetzungsbehörde ist die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung („BLE“). Sie hat die Befugnis, unlautere Praktiken zu untersuchen und zu sanktionieren. Die BLE kann dabei unter anderem Bußgelder bis zu 750.ooo Euro verhängen.
Außerdem ist die BLE befugt, Anordnungen zu erlassen, die zur Beseitigung unlauterer Handelspraktiken und zur Verhinderung künftiger Verstöße erforderlich sind (z.B. Beseitigungsanordnungen nebst Zwangsgeldandrohung in Höhe von bis zu 300.000 Euro). Sowohl die Entscheidungen über Anordnungen als auch die Entscheidungen über verhängte Bußgelder kann die BLE veröffentlichen.
Gegen die BLE-Maßnahmen können Unternehmen vor dem – auch für Entscheidungen des Bundeskartellamts zuständigen – Oberlandesgericht Düsseldorf vorgehen.
Vertragsklauseln, die gegen die Verbote unlauterer Handelspraktiken verstoßen, sind unwirksam.
Das AgrarOLkG betrifft, wie von der UTP-Richtlinie vorgegeben, auch Altverträge: Lieferverträge, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes abgeschlossen wurden, müssen innerhalb von zwölf Monaten nach der Verkündung des Gesetzes angepasst werden.
Schon nach zwei Jahren ist in Deutschland eine Überprüfung der UTP-Regeln vorgesehen. Geprüft werden soll dann auch ein zusätzliches Verbot von Dumpingpreisen. An dem deutschen Gesetz gab es bis zuletzt Kritik aus unterschiedlichsten Richtungen. Mehrere große deutsche Einzelhändler richteten sich gemeinsam mit einem Protestbrief an Bundeskanzlerin Angela Merkel, nachdem die Ministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner, bei der Vorstellung des Gesetzesentwurfs die Marktmacht der großen deutschen Einzelhändler deutlich kritisiert hatte.
Für die Praxis bedeuten die neuen Regelungen, dass Lieferanten und Käufer ihre bestehenden Verträge und Lieferbedingungen auf den Prüfstand stellen und spätestens innerhalb der zwölfmonatigen Übergangsfrist an die neuen UTP-Regeln anpassen sollten. Das betrifft beispielsweise Regelungen über Zahlungspflichten des Lieferanten für Werbung, Preisnachlässe oder die Untersuchung von Kundenbeschwerden. Bei nach Inkrafttreten des AgrarOLkG abgeschlossenen Neuverträgen sind die Vorschriften ohne Übergangsfrist zu beachten.
Käufer sollten außerdem ihre gängigen Geschäftspraktiken einer sorgsamen Überprüfung und ggf. Anpassung unterziehen. Dazu gehören beispielsweise Auslistungs-Praktiken, die Vereinbarung nicht-rechnungswirksamer Konditionen, Leistungskonditionen o.ä. sowie die Berechnung von Listungsgebühren.
Bei Neu- und Nachverhandlungen von Verträgen könnten Käufer versuchen, das Konditionengefüge zu verlagern und an anderer Stelle einen Ausgleich für die ihnen nunmehr verbotenen Handelspraktiken zu erlangen. Hier bleibt abzuwarten, welche neuen Handelspraktiken am Markt entstehen und inwieweit diese unter dem Regelungsregime des AgrarOLkG zulässig sind.
Käufer sind zudem gut beraten, mögliche Überschneidungen zwischen den UTP-Regeln und Kartellrecht zu bedenken. Von den UTP-Regeln erfasste Handelspraktiken können zugleich gegen Kartellrecht verstoßen. Bei Kartellrechtsverstößen drohen ausgesprochen hohe Bußgelder. Der deutsche Gesetzgeber hat deshalb vorgesehen, dass sich die BLE mit dem Bundeskartellamt abstimmt, bevor sie Maßnahmen verhängt.
Für Lieferanten wird das AgrarOLkG eine Stärkung ihrer Verhandlungsposition zur Folge haben. Sie werden nun beispielsweise vor einseitigen Vertragsänderungen oder der Androhung von Vergeltungsmaßnahmen geschützt, was ihnen einen taktischen Vorteil bringt. Bei Verstößen haben sie zudem die Möglichkeit, sich bei der BLE zu beschweren.
Interessant wird zudem sein, wie die BLE ihre Rolle als Durchsetzungsbehörde interpretieren und in welchem Umfang sie von ihren Untersuchungs- und Sanktionsbefugnissen Gebrauch machen wird.
Eine Umfrage in den EU-Mitgliedsstaaten hat ergeben, dass diese die Umsetzung der UTP-Richtlinie teils sehr unterschiedlich angehen. Sowohl Käufer als auch Lieferanten sind deshalb gut beraten, sich über die UTP-Regeln in sämtlichen Ländern ihrer Lieferketten zu informieren und eine Strategie für den Umgang hiermit zu entwickeln.
Geschrieben von Dr. Florian Unseld, Dr. Christiane Alpers und Annika Ullmann.