Insights und Analysen

Kartellschadensersatz – Schätzung der Schadenshöhe in der deutschen Gerichtspraxis

Immer mehr Urteile befassen sich mit der Schätzung der Höhe von Kartellschäden. In vielen weiteren Fällen haben Gerichte Sachverständige mit der Schätzung beauftragt. Wir fassen den aktuellen Stand zusammen und geben Einblicke in die relevanten praktischen Fragen.

Seit knapp 20 Jahren befassen sich Gerichte in Deutschland mit Schadensersatzfolgeklagen zu Kartellen. Nur wenige Urteile gibt es allerdings zur Kernfrage, der Höhe von Kartellschäden. Diese Frage rückt erst in letzter Zeit in den Fokus. Es sind weitere Urteile ergangen und es laufen zahlreiche Beweisaufnahmen zu einer sachverständigen Schätzung.

Daher lohnt sich ein Überblick und eine Einführung in das Thema. Dazu fassen wir einmal die bisherige Praxis zur Schadensschätzung zusammen (I.) und identifizieren aktuelle Trends (II.). Außerdem erläutern wir im Sinne eines ersten Einstiegs die in der Praxis derzeit wohl gängigste Methode zur Schadensschätzung, die Schätzung anhand ökonometrischer Regressionsanalysen (III.). Abschließend behandeln wir diverse praktische und taktische Aspekte rund um die Schadensschätzung (IV.).

I. Schadensschätzung in der bisherigen Rechtsprechung

In den bisher ergangenen deutschen Urteilen sind im Kern vier Methoden bei der Kartellschadensbestimmung angewandt worden – wir ordnen sie von einfacher zu komplexer.

  • In einigen Fällen war eine schadenspauschalisierende Vertragsklausel Grundlage der ausgeurteilten Schäden. Es handelt sich dabei um Klauseln in Lieferverträgen, nach denen im Falle eines Kartellverstoßes des Lieferanten zu Lasten des Kunden ein bestimmter pauschalierter Schadensersatz geschuldet ist. Nach dem Bundesgerichtshof (KZR 63/18) sind vertragliche Schadenspauschalen wirksam, wenn sie einen „branchenüblichen Durchschnittsschaden“ verkörpern. Im betroffenen Schienenmarkt sei der in der Klausel vorgesehene Schadensersatz in Höhe von 15 % der Abrechnungssumme zulässig. Dieser Ansatz greift naturgemäß nur, wenn eine entsprechende Klausel vereinbart worden ist.
  • Eine andere Herangehensweise ist eine freihändige Schätzung durch das Gericht – das bedeutet ohne jegliche mathematische Rechnung und ohne Hilfe durch einen Sachverständigen. Diese Art der Schadensfeststellung kommt in Spanien im LKW-Fall häufig zur Anwendung. Hierzulande hat bislang nur das Landgericht Dortmund (8 O 115/14 (Kart)) in einem Fall zum Schienenkartell den Schaden so geschätzt. Es schätzte den kartellbedingten Preisaufschlag auf 15 % (eingehend dazu Mindestens 15% - Landgericht Dortmund schätzt kartellbedingten Preisaufschlag). Ob sich dieser simplifizierende Ansatz in der Praxis etablieren wird, muss sich zeigen.
  • Eine weitere Methode der Schadensbestimmung ist der einfache Preisvergleich. Hier wird nun gerechnet: man vergleicht die durchschnittlichen Preise außerhalb des Kartells mit den Preisen währenddessen. Die Differenz wird als Schaden betrachtet. Diese Methode wurde – in Varianten – jüngst vom Oberlandesgericht Celle (13 U 120/16 (Kart)) zum Spanplattenkartell und in älteren Urteilen zum Vitamin- (13 O 55/02 (Kart.)) und Transportbetonkartell (2 U 10/03 (Kart.); 2 U 17/03 (Kart.)) angewendet. In allen Fällen wurde kein Gerichtssachverständiger für die Schätzung involviert.
  • Derzeit wird in vielen Fällen eine Schadensschätzung mit Hilfe einer Regressionsanalyse verfolgt, welche durch einen Gerichtssachverständigen erstellt wird. Auf die Art und Weise soll in über 50 Beweisaufnahmen am LG München I zum LKW-Kartell sowie am LG Mannheim zum Zucker-Kartell der Schaden geschätzt werden. Diese Methode vergleicht ebenfalls die Durchschnittspreise während und außerhalb des Kartells. Zusätzlich berücksichtigt sie, dass die Preisbildung hoch komplex ist und viele Faktoren (Kosten, Nachfrage, Konjunktur, etc.) eine Rolle spielen. Die Regressionsanalyse ver-sucht, all diese Faktoren zu erfassen und dann speziell die Preiserhöhung zu berechnen, die das Kartell verursacht hat (und nicht andere Faktoren wie etwa gestiegene Kosten).

II. Aktuelle Tendenzen in der Rechtsprechung

Das Kartellschadensersatzrecht ist ein weiter dynamisches Rechtsgebiet und der BGH hat sich noch nicht zur bevorzugten Methode positioniert. Einen gefestigten Ansatz zur Schadensschätzung gibt es dementsprechend nicht. Zwei grundlegende Tendenzen unter den Instanzgerichten sind aber erkennbar:

  • So gibt es einerseits Gerichte wie das LG Dortmund, die – jedenfalls in Fällen mit niedrigen Streitwerten – die Schätzung möglichst einfach und praktikabel halten möchten. Hier wird kein Sachverständiger bemüht oder gerechnet, sondern sich etwa an gängigen Studien zum durchschnittlichen Schaden (wie die Oxera-Studie) orientiert, um eine pragmatische Schadensschätzung anzustellen.
  • Andererseits gibt es Gerichte, die die bestmögliche Annäherung an den tatsächlich erlittenen Schaden erreichen möchten. Dazu gehören – jedenfalls in den Fällen LKW und Zucker – die Landgerichte in München und Mannheim. Die dort ergangenen Beweisbeschlüsse halten Regressionsanalysen für am besten geeignet und beauftragen Sachverständige mit der Durchführung.

Angesichts der zahlreichen derzeit laufenden Beweisaufnahmen zur Schätzung per Regressionsanalyse zeichnet sich ein gewisser Trend ab.

III. Schadensschätzung per Regressionsanalyse

Regressionsanalysen nehmen in der Praxis an Bedeutung zu. Wir erläutern die komplexe Materie, für die letztlich ökonomische Sachverständige verantwortlich zeichnen, im Sinne eines Überblicks aus der anwaltlichen Praxis.

Was ist eine Regressionsanalyse?

Das Ziel einer Regressionsanalyse lässt sich gut in Abgrenzung zum einfachen Preisvergleich aufzeigen. Der einfache Preisvergleich stellt die Preise während des Kartellrechtsverstoßes den Preisen außerhalb des Verstoßes gegenüber und betrachtet die Differenz als Schaden. Jene Methode beruht auf der Annahme, dass der Preis vor bzw. nach dem Kartell dem Preis entspricht, der sich während des Kartells bei wirksamem Wettbewerb eingestellt hätte. Mit anderen Worten, einziger Unterschied in den preisbeeinflussenden Faktoren zwischen Kartellperiode und vor-/nachfolgendem Zeitraum wäre danach das Kartell. Alle anderen den Preis beeinflussenden Faktoren blieben gleich.

Diese Annahme trifft oft nicht zu. Es gibt viele Gründe, warum sich die Preise zwischen dem Kartellzeitraum und in der Zeit vor oder nach dem Kartell ganz erheblich unterscheiden können:

  • So kann sich z.B. die Nachfrage ändern. Die Finanzkrise 2008/2009 etwa führte in vielen Märkten zu Preiseinbrüchen. In Fällen, in denen die Finanzkrise mitten im Kartellzeitraum lag, hat dies den Durchschnittspreis während des Kartells in bestimmten Fällen erheblich gesenkt. Die Differenz zum Preis vor oder nach dem Kartell wird so geringer. Berücksichtigt man die zusätzlichen Auswirkungen der Finanzkrise auf den Preis nicht, unterschätzt man also den tatsächlich entstandenen Schaden.
  • Ein weiteres klassisches Beispiel sind Produktionskosten. Sind sie während des Kartells stark gestiegen, kann dies entsprechende Preiserhöhungen nach sich ziehen. Die höheren Preise reflektieren höhere Kosten und insoweit nicht etwa die Auswirkungen der Kartellabsprache. Berücksichtigt man diesen Faktor nicht, überschätzt man den tatsächlichen Schaden. 

Eine Regressionsanalyse zielt darauf, sämtliche den Preis beeinflussenden Faktoren zu erfassen und so die Auswirkungen speziell des Kartells zu beziffern.

Erstellen einer Regressionsanalyse in der Praxis

Die Preisbildung in Märkten ist oft komplex und entsprechend aufwändig ist das Erstellen einer Regressionsanalyse.

Eine Regressionsanalyse misst statistische Zusammenhänge, und zwar zwischen jedem einzelnen preisbeeinflussenden Faktor und dem Preis. So beziffert sie z.B., in welchem Maß ein Nachfrageeinbruch den Preis senkt oder ein Kostenanstieg den Preis nach oben treibt. Entsprechende Zusammenhänge werden für jeden wesentlichen Preisfaktor ermittelt. Es ergibt sich eine Formel, die die gesamte Preisfindung im Markt möglichst passgenau abbildet. Die einzelnen Preisfaktoren sind über sogenannte Variablen erfasst.

Um das annäherungsweise leisten zu können, bedarf es umfassender Daten. Möchte man z.B. statistisch ermitteln, in welchem Umfang höhere Rohstoff- oder Energiekosten den Preis für Kunden erhöhen, bedarf es nicht nur der Preisdaten sondern auch Zahlen zu den tatsächlichen Rohstoff- und Energiekosten.

Sowohl die Ermittlung der relevanten Preisfaktoren (Variablen) als auch die Zusammenstellung und Aufbereitung der benötigten Daten wirft viele praktische Fragen auf. Hier bedarf es enger Zusammenarbeit von Ökonomen, Anwält*innen und Geschäftsleuten der beteiligten Unternehmen.

Deutung von Regressionsanalysen

Auch Regressionsanalysen erlauben „nur“ eine Annäherung an die Wahrheit. Es handelt sich um ein mathematisch komplexes Verfahren mit vielen Stellschrauben. Nicht selten kommen von Kläger und Beklagten vorgelegte Gutachten zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen. In der Praxis fundamental ist daher die richtige Interpretation solcher Analysen. Welche Kalibrierung der Stellschrauben ist die richtige, welche Ergebnisse sind plausibel? Hier sind viele Details relevant, zwei Kernfragen stellen sich aber immer:

  • Einmal stellt die Ökonomie selbst diverse Verfahren bereit, um die Güte von Analysen zu bewerten, wie z.B. sogenannte Robustheitstests. Hier wird untersucht, ob die Ergebnisse im Wesentlichen Bestand haben („robust“ sind), wenn verschiedene Varianten einer Regressionsanalyse verglichen werden, die alle ähnlich plausibel sind. Ändern sich die Ergebnisse der Varianten erheblich, kann das bedeuten, dass die Analyse nicht belastbar ist.
  • Wichtig ist es daneben, die Natur des geahndeten Verstoßes zu berücksichtigen. Die Regressionsanalyse selbst ist hierfür „blind“. Sie differenziert nicht danach, ob das Kartell in einer klaren Absprache von Preisen bestand oder einem oberflächlichen und losen Austausch von Informationen. Je nachdem kann die Wahrscheinlichkeit von Schäden und Höhe stark variieren. Es ist daher zu prüfen, ob die Ergebnisse zu diesen näheren Umständen eines Verstoßes passen.

IV. Praktische Aspekte rund um die Schadensschätzung

Wie gesehen kann die Ermittlung von Kartellschäden komplex sein. Entsprechend stellen sich viele praktische Fragen:

  • Zu erwägen sind Klauseln in Verträgen zur pauschalierten Schadensbezifferung. Diese mögen zwar – wie der Schienenkartell-Fall (BGH, KZR 63/18) zeigt – Prozesse nicht gänzlich zu vermeiden, können aber zumindest die Bezifferung von Schäden vereinfachen.
  • Gibt es keine derartigen Klauseln, hat die Rechtsprechung noch keinen Standard zur Bezifferung etabliert. Jedenfalls in Prozessen mit höheren Streitwerten scheint aber aktuell kein Weg an einer Regressionsanalyse vorbeizuführen.
  • Zentral für die Erstellung von Regressionsanalysen sind belastbare Daten. Je weiter ein Kartell zurückliegt, desto weniger Daten sind gewöhnlich noch vorhanden. Umgekehrt mag es für jüngere Zeiträume Massen an Daten geben und es gilt, die relevanten Daten zu ermitteln und dabei den Aufwand vertretbar zu halten.
  • Ebenso entscheidend für eine belastbare Analyse ist die Ermittlung der den Preis beeinflussenden Faktoren (Variablen). Je nach Variablen ergeben sich oft sehr unterschiedliche Ergebnisse. Die Auswahl und Bezifferung der relevanten Variablen ist daher stets hoch umstritten in Prozessen und außergerichtlichen Verhandlungen.
  • Es stellen sich dabei auch taktische Fragen. Bündelt man beispielsweise als Kläger Ansprüche, verbreitert sich die Datenbasis. Dies kann robustere Regressionsanalysen ermöglichen. Als Beklagter stellen sich andere Fragen. Zwar trifft Beklagte beispielsweise nicht die erste Hürde der Darlegungs- und Beweislast, dennoch kann es sich empfehlen, eigene Regressionsanalysen durchzuführen und vorzulegen, beispielsweise um so die spätere Beweisaufnahme mit einem Gerichtssachverständigen zu prägen.

 

Verfasst von Dr. Lukas Rengier, Dr. Christine Schmid, LL.M. (Berkeley), Felix Hohenhoevel.

 

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