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Die fundamentalen Spannungen, die der Ukraine-Krieg in den Energiemärkten verursacht, hinterlassen bereits jetzt tiefe Spuren bei Industrie und Privathaushalten. Vor allem bei besonders energieintensiven Industrien und Betrieben zeichnen sich bereits erste Produktionsdrosselungen, Produktionsstopps und sogar Insolvenzen ab. So haben jüngst Hersteller von energieintensiven Produkten wie Dünger, Kohlensäure und AdBlue die Produktion gedrosselt oder gleich ganz eingestellt. Mit Görtz und Hakle mussten zudem bereits zwei Unternehmen wegen steigender Energiekosten Insolvenz anmelden. Viele Unternehmen werden sich fragen, ob sie ihre Abnehmer trotz krisenbedingten Mangellagen weiter (uneingeschränkt) beliefern müssen. Wir geben einen Überblick über die kartellrechtlichen Anforderungen und Grenzen.
Die steigenden Energiekosten zwingen viele Unternehmen, Maßnahmen zum Erhalt ihrer Wirtschaftlichkeit zu prüfen. Dies äußert sich derzeit schon durch die (teilweise) Abwälzung von steigenden Kosten an die Abnehmer. Energieintensive Unternehmen können sich zudem damit konfrontiert sehen, die Produktion drosseln oder einstellen zu müssen und damit ihre Abnehmer nur noch teilweise oder gar nicht mehr beliefern zu können.
Während zur Weitergabe von Kostensteigerungen an die nächste Marktstufe in gewissem Umfang kartellrechtliche Entscheidungs- und Rechtsprechungspraxis existiert (wir berichteten hier), ist bezüglich der Einordnung von Lieferverweigerungen bzw. -kürzungen (noch) wenig Praxis ersichtlich.
Es dürfte davon auszugehen sein, dass die Kartellbehörden sehr genau beobachten werden, wie sich das Wettbewerbsgeschehen unter dem Eindruck der aktuellen Krisenlage entwickelt. So haben bereits zahlreiche Behörden weltweit, darunter auch die Europäische Kommission, angekündigt, dass sie ein wachsames Auge auf jeden Verdacht von Kartellrechtsverstößen im Zusammenhang mit Lieferkettenstörungen und Preisanstiegen haben werden. Das rückt auch die Reaktion von Unternehmen auf Mangellagen, etwa durch Strom- oder Gasknappheit, in den Fokus. Denn sobald ein Unternehmen Adressat des kartellrechtlichen Missbrauchsverbots ist, sind Lieferverweigerungen bzw. -kürzungen nicht ohne weiteres möglich.
Im deutschen Kartellrecht verbieten die Missbrauchstatbestände des § 19 GWB es marktbeherrschenden Unternehmen, ihre Stellung missbräuchlich auszunutzen. Aber auch Unternehmen mit relativer Marktmacht (§ 20 GWB) unterliegen in bestimmtem Umfang der Missbrauchskontrolle des § 19 GWB. Relative Marktmacht liegt bereits vor, wenn andere Unternehmen von dem betroffenen Lieferanten abhängig sind. Dies kann insbesondere bei nicht vorhersehbaren Mangellagen der Fall sein, weil Nachfrager nicht oder nicht zu konkurrenzfähigen Bedingungen auf andere Anbieter ausweichen können (sog. knappheitsbedingte Abhängigkeit).
Ist ein Unternehmen Adressat des Missbrauchsverbotes und ist es aufgrund von Produktionsengpässen oder Rohstoffknappheit nicht im Stande, die bestehende Nachfrage nach den von ihm angebotenen Waren oder Dienstleistungen zu befriedigen, trifft es aus kartellrechtlicher Sicht eine sog. Repartierungspflicht. Als Ausprägung des Behinderungs- bzw. Diskriminierungsverbots sind solche Lieferanten im Ausgangspunkt verpflichtet, alle gleichartigen Nachfrager gleichmäßig zu beliefern.
Grundsätzlich können sachliche Gründe eine Ungleichbehandlung der Abnehmer rechtfertigen. Ein Lieferant kann also einzelne Abnehmer bzw. Abnehmergruppen unterschiedlich behandeln, d.h. entscheiden, welche Abnehmer mit welchen Mengen wann beliefert werden (können). Erforderlich ist es dafür allerdings, dass der Lieferant sachliche Gründe darlegen kann, die objektiv dazu geeignet sind, eine Ungleichbehandlung der Abnehmer zu rechtfertigen. Dabei unterliegt ein vollständiger Lieferabbruch grundsätzlich höheren Anforderungen an eine sachliche Rechtfertigung als eine Lieferkürzung.
Für viele Lieferanten dürfte der weite Begriff der „sachlichen Rechtfertigung“ freilich wenig greifbar sein, sodass die Orientierung des eigenen Verhaltens an dieser Maßgabe schwerfallen kann. Wie erwähnt sind die Anhaltspunkte zu möglichen Rechtfertigungsgründen in der bisherigen deutschen Behördenpraxis leider eher überschaubar. Gewisse Parameter lassen sich jedoch ableiten.
Einen ersten Wegweiser dafür bietet der Fallbericht des Bundeskartellamts („BKartA“) zu hohen und stark ansteigenden Verkaufspreisen bei Spanplatten (Fallbericht v. 23.07.2021, abrufbar hier). In diesem führt das BKartA aus, dass „Versorgungsengpässe bei Kapazitätsauslastung, die hohe Nachfrage, leere Lager und gestiegene Rohstoffkosten“ als Konsequenzen der Corona-Pandemie sachliche Rechtfertigungsgründe für Preissteigerungen durch marktbeherrschende Unternehmen sein können.
Auch zur Allokation von Mindermengen führte das BKartA aus, dass es im Rahmen seiner Ermittlung keine Behinderung oder Ungleichbehandlung zwischen verschiedenen Nachfragern erkennen konnte. So wurden „die noch verfügbaren Mengen i.d.R. nach weitgehend nachvollziehbaren Kriterien auf die Kunden verteilt“, sodass es an Anhaltspunkten für ein missbräuchliches Verhalten fehle. Welche Kriterien dies im Einzelnen waren, wurde allerdings nicht erläutert. Im Ergebnis verzichtete das BKartA angesichts der besonderen Situation auf die Einleitung eines Kartellverwaltungs- oder Missbrauchsverfahrens: „Entscheidend hierfür ist, dass die Corona-Pandemie und ihre Folgen derzeit die Marktbedingungen im Anschluss an mehrere Lockdowns und Produktionsunterbrechungen stark beeinflussen und verzerren.“
Insoweit dürfte auch im Rahmen der aktuellen Krise davon auszugehen sein, dass bei einer gut dokumentierten Mangellage und der Verteilung der verbleibenden Mengen anhand eines nachvollziehbaren und sachgerechten Verteilungsmechanismus eine gewisse „Toleranz“ der Behörden zu erwarten sein dürfte.
Diese „Toleranz“ zeigt sich auch in der jüngst vom BKartA zugelassenen, zeitlich begrenzten Kooperation von Zuckerproduzenten (Pressemittelung v. 06.09.2022, abrufbar hier). Die Kooperationsvereinbarung sieht vor, dass sich die Unternehmen im Falle einer Kappung der Gasversorgung und daraus resultierendem Produktionsstillstand in den betroffenen Fabriken gegenseitig Produktionskapazitäten zur Verfügung stellen. Zweck dieser Ausnahme vom Kartellverbot aus § 1 GWB sei die Abfederung einer möglichen Gasmangellage. Andreas Mundt, der Präsident des BKartA, führte dazu aus: „Wir unterstützen Initiativen zur Krisenbewältigung im Rahmen des Kartellrechts.“
Auch wenn das gegenseitige Zurverfügungstellen der Kapazitäten nur als letztes Mittel erfolgen soll, verdeutlicht auch diese Entscheidung, dass das BKartA während solcher besonderen Situationen dazu bereit ist, besondere wirtschaftliche Umstände und Stresslagen bei seiner kartellrechtlichen Bewertung zu berücksichtigen.
Weitere Anhaltspunkte für sachliche Gründe, die eine Ungleichbehandlung von Abnehmern rechtfertigen können, finden sich in der Rechtsprechung des EuGH aus Zeiten der Ölkrise der 1970er-Jahre.
Seinerzeit befassten sich die Europäische Kommission und der EuGH mit der Frage, ob Lieferkürzungen und Lieferverweigerungen eines Mineralölunternehmens gegenüber einem Abnehmer zulässig waren. Während die Europäische Kommission feststellte, dass das Mineralölunternehmen seiner Repartierungspflicht durch die ungerechtfertigte Lieferkürzung nicht nachgekommen sei und die Missbräuchlichkeit bejahte (Entsch. v. 19.04.1977; 77/327/EWG, abrufbar hier), hob der EuGH die Entscheidung auf (Urt. v. 29.06.1979; 77/777, abrufbar hier).
Im Gegensatz zur Kommission erachtete der EuGH diese Lieferkürzung als sachlich gerechtfertigt. Abnehmer, die als „Gelegenheitskunden“ eingeordnet wurden, hätten aufgrund ihrer Stellung anders behandelt werden können als solche Unternehmen, die als „Stammkunden“ galten. Die Begrifflichkeiten „Stammkunden“ und „Gelegenheitskunden“ wurden dabei nicht von den Parteien, sondern vom EuGH selbst im Rahmen der sachlichen Rechtfertigung eingeführt. Da der in dem Streitfall relevante Abnehmer bereits „seit einigen Monaten vor Ausbruch der Krise die Stellung als Gelegenheitskunde hatte“, könne dem beliefernden Mineralölkonzern kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass er dem Abnehmer „während der Krise eine weniger zuvorkommende Behandlung hat angedeihen lassen als [seinen] Stammkunden.“
Diese Rechtsprechung zeigt, dass eine Differenzierung zwischen Stamm- und Gelegenheitskunden eine unterschiedliche Belieferung von Abnehmern rechtfertigen kann. In (Teilen) der Literatur wird dieser Rechtsprechung zudem der Grundsatz entnommen, dass in Krisenzeiten keine Belieferungspflicht gegenüber Gelegenheitskunden bestünde, wenn diese nicht in ihrer Existenz gefährdet seien.
Bezüglich der konkreten Ausgestaltung der Repartierungspflicht gingen Europäische Kommission und EuGH davon aus, dass als Bemessungsgrundlage eine Zugrundelegung der durchschnittlichen Abnahmemenge der Kundschaft in einem Referenzzeitraum von 12 Monaten vor Beginn der Krise angemessen sei.
Die bereits dargestellten Gründe, die Unternehmen für eine sachliche Rechtfertigung anführen können, sind nicht abschließend. Gerade im Hinblick auf die begrenzte Fallpraxis sollte es möglich sein, einzelfallspezifische Erwägungen für eine Rechtfertigung anzubringen. Wichtig wird es dabei aber stets sein, dass es sich um objektive und nachvollziehbare Verteilungskriterien handelt, die die Eigenschaften der Abnehmer bzw. Abnehmergruppen berücksichtigen. Dabei könnten im Einzelfall unterschiedliche Beschaffungsstrategien der Abnehmer (Single Sourcing vs. Dual Sourcing) oder der zu einem bestimmten Zeitpunkt antizipierte Bedarf bei der sachgerechten Verteilung verfügbarer Liefermengen eine Rolle spielen. Ein für die Belieferung erarbeiteter Verteilungsmechanismus sollte dann für alle Abnehmer bzw. Abnehmergruppen gleichermaßen zur Anwendung kommen.
Eine denkbare Erwägung könnte daneben zum Beispiel auch eine Unterscheidung nach der Bedeutung der Abnehmer sein, etwa eine bevorzugte Belieferung von Unternehmen der Grundversorgung oder von Herstellern kritischer Produkte für die Allgemeinheit (z.B. medizinische Produkte oder Lebensmittel). Ein guter Anhaltspunkt für die Festlegung solcher kritischen Sektoren könnte die Verordnung zur Bestimmung Kritischer Infrastrukturen nach dem BSI-Gesetz (BSI-KritisV, abrufbar hier) darstellen. Die Rechtfertigung von Lieferverweigerung bzw. -kürzungen gegenüber solchen Unternehmen dürfte an strengeren Maßstäben zu messen sein als die gegenüber anderen Unternehmen. Umgekehrt dürfte eine Weiter- bzw. Mehrbelieferung solcher Unternehmen im Gegensatz zu anderen Abnehmern einfacher zu rechtfertigen sein.
Gerne beraten wir Sie zu allen Fragen rund um die Themen Preiserhöhungen und Lieferengpässe.
Verfasst von Jan Philipp Sparenberg.